Trendbarometer: Im Spagat zwischen Mangel und Überfluss

Publiziert

Die globale Landwirtschaft schaut auf ein sehr bewegtes Jahrzehnt zurück. Zu Beginn des neuen Jahrtausends herrschte auf den Märkten für landwirtschaftliche Produkte der Überfluss. Obwohl die Weltbevölkerung – und damit auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln – rasant wuchs, konnte die Produktion Schritt halten. Fortschritte in Züchtung, Produktionsmitteln und Management machten dies möglich. Diese Produktionsfortschritte und das dadurch konstant gehaltene Verhältnis zwischen Produktion und Konsum von Lebensmitteln führten zu im Trend sinkenden Produzentenpreisen für Agrargüter.

Auf den globalen Märkten war Mangel an Nahrungsmitteln denn auch bis zum Jahr 2008 kein Thema – was aber nicht heissen will, dass es lokal keine Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung gegeben hätte. Dann änderte sich plötzlich alles. Verschiedene Elemente führten dazu, dass Nahrungsmittel plötzliche knapp zu werden schienen. Mitverantwortlich für die Wende waren unter anderem eine widrige Witterung in verschiedenen Teilen der Welt, die zu tieferen Ernten führte, die hohe Nachfrage nach Biotreibstoff sowie politische Eingriffe in die Märkte. Vor allem die politischen Eingriffe in die Märkte, insbesondere Exportverbote in wichtigen Exportländern, haben dazu geführt, dass das Angebot auf den Weltmärkten zurückgegangen ist. Kombiniert mit einer unelastischen Nachfrage für Grundnahrungsmittel führte dies zu rekordhohen Preisen auf den Märkten.

Hohe internationale Preise
Die Bedeutung der Landwirtschaft im öffentlichen Bewusstsein stieg in dieser Zeit schlagartig an. Im Vordergrund stand wieder eindeutig die Produktion von Nahrungsmitteln. Dass man noch ein paar Jahre zuvor darüber diskutiert hatte, wie man Agrarland am besten aus der Produktion nimmt um Überschüsse zu vermeiden, war plötzlich vergessen. Die hohen internationalen Preise führten auch dazu, dass sie in der Nähe der Schweizer Preise zu liegen kamen. Die Schweizer Landwirtschaft schien plötzlich international wettbewerbsfähig zu werden, ohne zusätzliche Anstrengungen ihrerseits. Mittlerweile hat sich die Euphorie wieder etwas gelegt. Einige gute Ernten und auch der rekordtiefe Ölpreis führten dazu, dass die Preise für die meisten Agrargüter wieder auf ein Niveau gesunken sind, das zwar immer noch höher als im Jahr 2000, aber deutlich unter den Rekorden der Jahre 2007 bis 2008 liegt.

Wie sich die Schweiz verhalten soll
Verschiedene Indikatoren, etwa die steigende globale Temperatur, deuten darauf hin, dass wir in der Zukunft vermehrt mit solchen Schwankungen werden leben müssen. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wie soll sich die Schweizer Landwirtschaft, beziehungsweise die Agrarpolitik, in einem solch unsicheren Umfeld positionieren? Soll die Agrarpolitik so gestaltet werden, dass sie Anreize setzt, die die Produktion permanent auf das maximal mögliche ausrichten, um auf Situationen wie 2008 vorbereitet zu sein? Dies würde relativ hohe monetäre (finanzielle Unterstützung der Produktion) wie auch nicht-monetäre (z.B. Emissionen von Pflanzenschutzmitteln) Kosten verursachen. Oder sollen die Anreize auf eine Zeit des Überflusses ausgerichtet werden und man lässt die Produktion von Lebensmitteln auf ein Minimum zurückgehen? Dies würde bedeuten, dass man in Zeiten des Mangels nur wenig zur Ernährung der Welt beitragen könnte.

Naturnahe Lebensmittelproduktion
Die Agrarpolitik und damit auch die Landwirtschaft müssen in erster Linie auf die Bedürfnisse der Bevölkerung und der Konsumenten ausgerichtet sein. Driften deren Ansprüche und die Ausrichtung der Agrarpolitik zu weit auseinander, so wird dies früher oder später zu einer Korrektur kommen. Welche Ansprüche die Bevölkerung an die Landwirtschaft hat, zeigt eine repräsentative Umfrage der Hochschule Luzern unter der Schweizer Bevölkerung. Diese Umfrage zeigt auf, dass die Bevölkerung in erster Linie will, dass die Schweizer Landwirtschaft naturnahe Lebensmittel produziert. Im Durchschnitt will die Bevölkerung aber auch, dass durch eine schonende Bewirtschaftung die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt in der Schweizer Kulturlandschaft erhalten bleibt, und dass in der Produktion hohe Standards beim Tierschutz eingehalten werden. Die Rationalisierung der Produktion mit dem Ziel, die Produktionskosten zu senken, ist ihr hingegen eher weniger wichtig. Wenn man die Stichprobe etwas aufteilt kann man aber erkennen, dass mehr als ein Viertel der Bevölkerung andere Prioritäten setzt. Dieses Viertel setzt vor allem Prioritäten beim Preis der Nahrungsmittel und folglich auch bei der möglichst effizienten Produktion.

Uneinheitliches Bild
Ein ähnlich uneinheitliches Bild zeigen auch die Entscheidungen der Konsumenten. Zum einen erleben verschiedene Label, die dem Konsumenten einen Mehrwert versprechen, aber auch mehr kosten als Standardware, einen regelrechten Boom. Bei der Migros ist zum Beispiel das Label «Aus der Region» zurzeit das umsatzstärkste. Die Konsumenten sind bereit, etwas mehr zu bezahlen, für ein hochwertiges Produkt, dessen Produktionsprozess sie wohl als gewinnbringend für die Allgemeinheit ansehen. Auch wird in der Schweiz so viel Geld ausgegeben für Bio-Produkte wie nirgendwo sonst auf der Welt. Gleichzeitig gibt es aber auch einen schönen Anteil preissensibler Konsumenten, die im günstigeren nahegelegenen Ausland einkaufen gehen, um vom dortigen tieferen Preisniveau profitieren zu können.

Weitere Leistungen bieten
Auch wenn der Begriff Multifunktional schon lange verwendet wird und sich langsam überholt hat, kann man wohl – ohne Überinterpretation der genannten Sachverhalte – feststellen, dass er die Bedürfnisse von Bevölkerung und Konsumenten immer noch gut widerspiegelt. Die Nahrungsmittelproduktion steht als Aufgabe der Landwirtschaft für die Bevölkerung im Vordergrund. Dies soll aber nicht ihr einziger Zweck sein. Insbesondere soll die Produktion nicht auf ein Niveau gebracht werden, das die Erbringung anderer Leistungen der Landwirtschaft, wie die nachhaltige Bewirtschaftung der Böden oder die Landschaftspflege, verhindern. Die Landwirtschaft, soll neben der Nahrungsmittelproduktion noch weitere Leistungen anbieten. Dies haben sowohl die befragte Bevölkerung wie auch die Konsumenten mit ihrer Zahlungsbereitschaft für verschiedene Label gezeigt. Diese Diversifikation der landwirtschaftlichen Leistungen dürfte damit der beste Weg sein, die Landwirtschaft mit einem attraktiven Portfolio an Leistungen zwischen Mangel und Überfluss zu positionieren. Jetzt gilt es, dieses Portfolio möglichst gut zu bewirtschaften und dafür zu sorgen, dass man bei der Effizienz – in allen Dimensionen – der Bereitstellung der verschiedenen Leistungen möglichst schnell und viel Fortschritte macht.

Prof. Dr. Bernard Lehmann, Direktor Bundesamt für Landwirtschaft (BLW)